Die Spielräume verengen sich

Experten nehmen das neue Kitagesetz unter Beschuss. Weil Eltern ihre Kinder nur noch bringen dürfen, wenn sie selbst keine Zeit haben, sei in den Kitas pädagogische Arbeit kaum noch möglich

von Sabine am Orde

Zumindest ein Lob hatten die Experten für den Entwurf des neuen Kitagesetzes: Das formulierte Ziel, die Kindertagesstätten endlich zu Bildungseinrichtungen umzubauen, stieß auf große Zustimmung. Doch danach hagelte es Kritik bei der Anhörung, zu dem der Jugendausschuss des Abgeordnetenhauses gestern in einer Sondersitzung zusammenkam. Denn die Experten der Bildungsgewerkschaft GEW, des Landeselternausschusses und der freien Träger sind sich einig: Dieses Ziel passt nicht zum Rest des Gesetzentwurfes. Mit ihm droht eine gravierende Verschlechterung der Arbeit in den Kindertagesstätten. "Der Bildungsbedarf der Kinder wird dem Betreuungsbedarf der Eltern untergeordnet", brachte Martin Hoyer vom Paritätischen Wohlfahrtsverband die Kritik auf den Punkt. "Und das ist ganz klar und deutlich eine finanzielle Entscheidung." Dies aber stehe zu den selbst gesteckten Zielen in klarem Widerspruch, sagte Klaus Schröder von der GEW: "Man müsste den Zugang zu den Kitas erleichtern und sie personell besser ausstatten, damit sie diesen Zielen gerecht werden können." Allein Sigrid Klebba, Jugendstadträtin in Friedrichshain-Kreuzberg und Parteifreundin von SPD-Bildungssenator Klaus Böger, verteidigte den Gesetzentwurf.
Im Zentrum der Kritik steht eine Neuregelung des Bedarfs, also der Zeit, die die Kinder in den Kitas verbringen können. Bislang wird der längste Wochenarbeitstag der Eltern für die Berechnung als Grundlage genommen. Arbeiten die Eltern also nicht Vollzeit, aber dennoch an zwei Tagen der Woche acht Stunden lang, erhält das Kind einen Ganztagesplatz. Das soll sich jetzt ändern. Aus der Arbeitszeit der Eltern soll der Durchschnitt errechnet werden - und damit wird der Bedarf in vielen Fällen niedriger ausfallen als bislang. Für die Kitas bedeutet das zweierlei, kritisierte Roland Kern von Dachverband der Kinder- und Schülerläden (DaKS): Die Einrichtungen bekommen weniger Personal, denn die Personalmittel richten sich nach den Betreuungszeiten der Kinder. "Die Spielräume verengen sich enorm", so Kern. Für viele Kinderläden sei das "bestandsgefährdend". Zudem ziehe in die Kitagruppen eine große Unruhe ein. Wenn ein Teil der Kinder mittags geht, andere nur an vier Tagen in der Woche kommen, dann sei das für die Dynamik in den Gruppen ein echtes Problem.
Auch Robert Podolski, Vorsitzender des Landeselternausschuss Kindertagesstätten (Leak) kritisierte die angestrebte Flexibilisierung der Betreuungszeiten: "Für die Eltern bedeutet das eine große Unsicherheit." Neben der restriktiveren Berechnung des Bedarfs soll dieser auch stärker kontrolliert werden: Jedes Jahr müssen die Eltern nach dem Gesetzentwurf nachweisen, dass sich ihre Arbeitssituation nicht verändert hat. Ist das der Fall, kann der Bedarf umgehend korrigiert werden. Zusätzlich soll es eine weitere Überprüfung bei dem Übergang von der Krippe zur Kita geben. Das alles sei unnötig und führe vor allem zu mehr Bürokratie, kritisierten die Experten.
Alle Fachleute, die SPD-Politikerin Klebba ausgenommen, appellierten an den Ausschuss, den Gesetzentwurf noch einmal zu überarbeiten. Viel Hoffnung aber haben sie nicht. Schließlich haben sie ihre Kritik bereits Anfang des Jahres formuliert, als die Bildungsverwaltung der ersten Referentenentwurf vorlegte. "Danach hat es zwar Veränderungen gegeben", sagte der GEW-Kitaexperte Klaus Schröder. "Aber unsere grundsätzliche Kritik ist noch immer dieselbe." Die rot-rote Koalition will das Gesetz noch vor der Sommerpause verabschieden.

Kommentar:
Zurück zur Betreuung
Man kann es nur schizophren nennen. Da wird in dem Entwurf des neuen Kitagesetzes das Ziel formuliert, Kindertagesstätten sollen endlich Bildungs- und nicht nur Betreuungseinrichtungen sein. Da lässt SPD-Bildungssenator Klaus Böger keine Gelegenheit aus, um die Bedeutung der Kitas bei der Sprachförderung von Migrantenkids zu betonen. Da beschließt der SPD-Landesparteitag den Einstieg in die kostenfreie Kita, auch um eine Hemmschwelle für den Kitabesuch abzubauen. Und gleichzeitig bringt der SPD-Bildungssenator mit Unterstützung der rot-roten Fraktionen einen Gesetzentwurf ins Abgeordnetenhaus ein, der all diese Ansprüche grundlegend konterkariert.
Denn mit dem Gesetzentwurf wird der Zugang zu den Kindertagesstätten erschwert. Viele Kinder werden künftig weniger Zeit in der Kita verbringen. Besonders problematisch wird das für Kinder aus so genannten bildungsfernen Elternhäusern, für die die Kita eine wichtige Vorbereitung auf die Schule ist. Mit einer Bildungseinrichtung, die allen Kindern Chancen eröffnen soll, hat das wenig zu tun.
Sollen die Kindertagesstätten zudem wirklich zu einer Einrichtung werden, die die Ansprüche des viel gelobten Berliner Bildungsprogramm umsetzen kann, muss die Politik dafür auch die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Die beiden wichtigsten sind: genügend und motiviertes Personal sowie stabile Gruppen, in denen sich die Kinder wohl fühlen und Lernen möglich ist. Von all dem ist der Entwurf für das neue Kitagesetz weit entfernt. Statt bildungspolitische Reformkonzepte scheinen haushaltspolitische Notwendigkeiten im Vordergrund zu stehen. Denn nach den Vorgaben des Gesetzentwurfs werden Kitas nicht besser, sondern nur billiger. Der Bildungsauftrag der Kita wird zur Farce. Kitas bleiben Betreuungseinrichtungen. Und die hehren Ziele der SPD reines Parteitagsgeschwätz.

Taz, 31.5.05


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